Vorsichtig setze ich einen Fuß über den anderen. Umso höher ich komme, desto brüchiger wird die Takelage des alten Kahns. Mir gegenüber hängen nur noch Fetzen und auch die Wanten, in denen ich klettere, haben immer größere Löcher. Das Messer zwischen den Zähnen, der Nachtwind, der mir durch die Haare weht, und die schwindelerregende Höhe lassen mich wie einen echten Piraten fühlen. Fast geschafft, ich bin an der Spitze angekommen und greife mein Messer, mit dem ich mich daran mache, die alte, zerrissene, Fahne vom Mast zu schneiden. „Ich habe sie, ich habe sie!“ Mit der der Beute in der Hand rutsche ich mehr, als das ich klettere den Mastbaum herunter und breche zweimal vor Eifer fast durch die maroden Seile. Auf Deck angekommen springe ich von Bord und renne lachend mit den anderen zurück zu unserem eigenen Schiff.

Wir sind früher an diesem Tag mit unserem Segelschiff, nach einem stürmischen Tag auf See, im dänischen Rödby-Hafen eingelaufen. Dort hatten wir gleich das alte, klapprige Holzschiff „Norden“ in unserer Nähe gesehen. Ein kleiner Trupp von uns wurde in das Städtchen gesandt, um es zu erkunden und etwas für das Abendessen aufzutreiben. Sie kamen wieder, wir kochten und aßen und die ganze Zeit über regte sich nichts mehr auf der „Norden“. Auch als es dunkel geworden war, zeigte sich niemand mehr. War es möglich, dass die Besatzung das Schiff unbewacht zurückgelassen hatte? Wir beschlossen an dieser Stelle der verschollenen Mannschaft nach dem Rechten zu sehen. Im Schutze der Dunkelheit schlichen wir unauffällig zu dem vor uns hin dümpelnden Holz-Zweimaster und spähten aus, ob nicht vielleicht doch ein einsamer Matrose an Deck wache hielt. Einer wurde zum Schmiere stehen am Kai postiert, während wir Anderen das Deck betraten. Nach kurzer Suche fanden wir eine Luke am Bugbereich des Kahns, die unverschlossen war. Touri und Julian stemmten sich mit einem Ruck dagegen und so öffnete sich schwerfällig unser Eingang in das Dunkel des Schiffbauches.

Feuerzeuge erleuchteten spärlich unseren Weg durch die Finsternis, Wasser stand auf dem Boden; Bretter und Werkzeuge entlang der Seitenwände und da am Ende, in Richtung der Kapitäns-Kajüte ein Kühlschrank. Langsam öffneten wir denselben und fanden neben altem Käse und Butter auch Dosenbier, Rum und Kakao. Darauf tranken wir erst einmal. Kosti wurde auf seinem Posten abgelöst, um ebenfalls das Schiff zu erkunden und von der süßen Beute zu kosten. Als wir unserer Eroberung genügend gefeiert hatten, wollten wir den Kahn wieder verlassen, doch da sah ich die zerschlissene Fahne hoch oben, über unseren Köpfen flattern. Das durfte bei einem geenterten Schiff natürlich nicht so bleiben, außerdem macht sie sich heute in unserem Nest eh besser.

Von Yannick Costa Nohl von den Löwenrittern


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