Ostsee: Der Wind will mich mit seiner ganzen Gewalt hinfort drücken. Mit der einen Hand versuche ich mit Mühe und Not mein Barett auf dem Kopf fest zu halten, mit der anderen Hand halte ich mich an der rutschigen Metalleiter fest, immer auf dem Weg nach oben, auf den höchsten Punkt des Schiffes. Endlich habe ich es geschafft und blicke erfüllt über das dunkle Meer hinauf zu den Sternen. Von hinten höre ich Nils lachend, der ebenfalls oben angekommen ist: „Was denken wir uns da nur immer für Spiele aus!“ Schnell winken wir noch dem Rest des Fähnleins, dass unten Schmiere steht, und dann brausen wir wieder nach unten, rutschen auf der Rückseite der Brücke runter aufs Deck und springen über das Absperrgitter. Wir sind in Sicherheit, Kapitän und Crew der Autofähre „Finnlady“ scheinen nichts von diesem Spektakel mitbekommen zu haben, und die Mehrheit unserer Mitreisenden schläft ohnehin vom Schaukeln der Ostsee.
Einstieg: „Nu singt uns halt mal ein Abschiedliedchen.“ Der deutsche Rentnerbus, der uns seit Inari beherbergt, hält kurz vor Karigasniemi und entlässt uns heute in die Wildnis Lapplands. Ihre Fahrt setzt sich in Richtung Nordkap fort, wir aber verbleiben im nördlichen Finnland auf der Suche nach Einsamkeit und unberührter Natur. „Im Kevo-Nationalpark gibt es hohe Temperaturschwankungen. Auf den Hochebenen erwarten sie im Sommer häufig über dreißig Grad Celsius und im Winter bis zu -50 Grad Celsius.“ Wir lachen über dieses Hinweisschild am Parkplatz, doch werden später eines Besseren belehrt. Schon eine Stunde abseits der Straße sind wir völlig für uns. Rund 90 Kilometer liegen vor uns, bis wir wieder Zivilisation erreichen wollen. Die Verpflegung ist rationiert. Frühstück: 125 Gramm Porridge. Mittag: Ein Snickers (Bei Leistung, ansonsten spare ich es für Notfälle auf). Abends: Nudeln oder Reis, mit wechselnden Soßen, immer aber mit einer Zwiebel, Knoblauch und etwas Öl. Werde ich es wieder schaffen, mich für mehrere Wochen an die primitiven Lebensumstände der Fahrt zu gewöhnen? Mit dieser Frage ziehe ich in die Wildnis. Abends springen wir zum ersten Mal in einen See, meine Sorgen scheinen verfolgen zu sein und geben der Freude Raum.
Hochebenen: Gestern haben wir vier Menschen getroffen. Heute bisher keinen. Die nächste menschliche Siedlung liegt zwei Tagesmärsche entfernt. Ein Mobiltelefon führen wir nicht mit und diskutieren bei der Mittagsrast, was denn nun zu tun wäre, wenn jemand einen Unfall hätte. Der Bewuchs ist nahezu verschwunden, selbst die Krüppelbirken. Die Sonne brennt von oben auf uns hernieder, doch weit und breit gibt es keinen Schattenplatz. Deshalb vermeiden wir längere Pausen und machen gut Strecke, rund zwanzig Kilometer am Tag, heute aber sechsundzwanzig. Ein größerer Bach gibt uns Wasser für eine Rast, als wir Forellen im klaren Gebirgswasser entdecken. Nils und Eisbär versuchen, sie vergeblich mit der Hand zu fangen. Der Topfbeutel wird kurzerhand zum Kescher umfunktioniert und bringt den gewünschten Erfolg. Die unvorsichtigen Fische dürften kaum einem Menschen vor uns je begegnet sein, so aber ergänzen sie heute Abend unsere Tomatensauce. Wir erreichen gegen Abend einen sumpfigen Fluss, doch der Mückentanz zwingt uns wieder auf die Höhe. Unser Lager steht und wir genießen den Blick über die schier unendlichen Weiten. Am Horizont zieht eine riesige Rentierherde vorbei.
Abstieg: Der Kevo-Canyon ist schon von weitem zu sehen und nach den Tagen auf er Hochebene freuen wir uns wieder über Bäume und Wald. Ein Fluss, der an manchen Stellen zum breiten See wird, durchfließt die hohe Schlucht. Die Mückenlage hier ist furchtbar. Bei jeder Flussdurchquerung müssen wir aus den Schuhen und das geschieht ungemein schnell, denn die aggressiven Blutsauger blasen sofort zum Angriff. Der Abend sieht uns auf einer Steininsel mitten im Fluss, denn hier ist der Wind und hält uns zumindest die Mehrheit der Mücken vom Leibe.
Inarijärvi: Es ist die zweite Woche unserer Fahrt und wir sind nahe Ivalo mit Maria verbredet, die uns dort Kanus verleihen will. Es geht alles sehr schnell und wir stechen schon gegen elf Uhr in See. Nach den Wandertagen ist das Schaukeln und Sitzen ein ungewohntes Gefühl. Gegen Abend landen wir auf einer der zahllosen einsamen Inseln. Die Zelte stehen, die Wäsche hängt zum Trocknen in der Sonne und wir genießen das Baden im Wasser. Den ganzen Tag haben wir auch hier keinen Menschen gesprochen, gelegentlich fährt ein Same mit seinem Fischerboot an uns vorbei.
Inarifischer
Der Regen ist vorüber, nun fahren sie hinaus.
Die Angeln ziehen schwer am Heck,
ein fröhlicher Fischer winkt vom Deck,
uns Wandervögeln zu.
Zwei fremde Welten schauen, hier einander zu.
Wo mag er abends weilen?
Wo im Winter bleiben?
Wie schaut sein Leben aus?
Am Rand der Welt, am weiten See,
voll Inseln, Fels und Wind,
begegnet sich der echte Mensch,
vergessen ist, was trennt.
In See: Ich hätte gestern weniger über das „Griechenlandgefühl“ am Inarisee spotten sollen. Das Wetter hat umgeschlagen und hohe Wellen schäumen auf dem Wasser. Wir fahren im Zickzack-Kurs, um ein Kentern zu vermeiden. Die Parole ist klar: „Haltet euch die Inseln links, damit ihr im Falle des Kenterns von der Südostwelle dorthin getrieben werdet. Haltet euch im Zweifel am Boot fest, das sinkt nicht.“ Das geht auch gut, solange wir im Windschatten der Inseln bleiben. Draußen, auf der großen Passage scheint es mir unmöglich, ich sehe die weißen Wellen, die eher an offenes Meer erinnern. Später erfahre ich, dass sie an diesem Tag cirka 1,5 Meter hoch waren. Eine Fünf-Kilometer-Passage ohne Land in der Nähe erscheint mir zu leichtsinnig, zumal ich auf das Können meiner Begleiter setzen muss und nicht jedes Kanu selbst steuern kann. Doch, wir müssen nach Osten. Ein neuer Plan wird geboren. Wir kreuzen zunächst nach Norden. Hier liegt ein Sumpf zwischen zwei Inseln, der ebenfalls einige Kilometer nach Osten verläuft, parallel zur großen Passage. Wir müssen aber in Kauf nehmen, dass dieser vielleicht an einigen Stellen das Fahren unmöglich macht und wir schieben oder gar tragen müssen. Das Glück ist auf unserer Seite, als wir das Schilf durchtastet haben, denn der Sumpf ist ein kleiner, rettender Fluss zwischen den beiden Inseln. Wir lassen Sturm und Welle hinter uns und errichten unser Lager am „Windfangfluss.“ Das Feuer brennt, der Tee kocht und mit unseren Klampfen singen wir gegen das Wetter: „Steuermann ho!“ oder „Wir sind die Hölle, von Helgoland!“ Der spätere Abend bringt noch ein Ereignis. Wir liegen schon fast alle schlaftrunken in den Zelten. Da höre ich Atta vom Wasser rufen,: „Jungs, ich glaube da vibriert etwas.“ „Jaja, sicher hängt der Harken nur irgendwo fest“, murmele ich hinaus. „Da, ich sehe ihn, ein Barsch.“ Mit einem Ruck bin ich aus dem Schlafsack: „Vorsichtig jetzt, der muss sich richtig festbeißen.“ Im nu sind alle Wach und das Feuer wird wieder geschürt.
Die Streife: Der gestrige Abend sah uns an einer der Ostbuchten des Inarisees, unweit von Nellim. Gewitter ist aufgezogen und verhindert, dass wir weiterkommen. Wir sitzen am Feuer und braten Fische, die wir im Laufe des Tages geangelt haben. Wir sind nun unweit der russischen Grenze und laufen eine Streife in diese Richtung. Ein Schotterweg verläuft parallel zur Grenze, dazwischen ein Schutzstreifen von rund zwei Kilometern breite: Betreten bei Strafe verboten. Von hinten fährt ein Wagen der Grenzpolizei. Er fährt neben uns und die Beiden schauen ungläubig auf die jungen Burschen in ihren alten Militärjacken und den blauen Baretts auf den Köpfen. „You know, where you are?“ „Yes!“ Sie glotzen noch eine Weile, dann setzen sie ihre Kontrollfahrt fort, ohne uns weiter zu behelligen. Die Barette wandern vom Kopf in die Tasche und wir hasten rechts den Hang hinauf, außer Sichtweite des Weges. Dann holen wir den Kompass hervor und arbeiten uns in Richtung Nordosten. Es ist schierer Urwald. Die Füße sind völlig durchnässt vom Moor, doch unser Abenteuerdrang kennt keine Grenzen: Unser Fuß soll erst wieder auf russischem Boden stoppen. Eine Stromleitung bildet laut Karte den letzen Punkt finnischen Bodens. Danach betreten wir Russland – also eigentlich sieht alles aus wie in Finnland und ich würde behaupten, auch die Bäume könnten aus dem gleichen Samen sein, doch die von Menschenhand gezogene Grenzlinie ist übertreten. Noch rund einen Kilometer ziehen wir in das Land hinein und fragen uns: „Wie weit könnte man wohl noch wandern, bis man wieder auf Menschen trifft?“ Auf dem Rückweg begegnet uns ein ungewöhnlicher Grenzwächter. Ein Adler hat auf der Schneise sein Nest errichtet und hier wohl noch nie einen Menschen gesehen. Er schreit, verteidigt seinen Horst und fliegt immer dichter über unsere Köpfe, bis wir davon sind. Abends liegen wir wieder in unseren Zelten.
Grense Jakobselv: Finnland liegt hinter uns und wir sind nun auf dem Weg nach Norden. Wir erreichten heute Norwegen und auch Kirkenes bleibt zurück. Unser Lager ist am äußeren Ende des Jakosbelvs. Fjord und Fluss trennen Norwegen und Russland. Zu beiden Seiten Zäune, Pfosten und Grenzstationen, die hoch oben auf den Bergen thronen. Auf einer alten Militärstellung errichten wir windgeschützt unsere Zelte und entzünden aus Treibgut ein Feuer. Wild klingt unser Lied in den Abend: „Weiter zieht das Heer nach Petsamo, klein ist es zwar, doch Lied und Branntweinfroh!“ Ein Quad der norwegischen Armee hält in Sichtweite unseres Lagers und die Soldaten beobachten uns. Ich sehe kurz das Grinsen in den jungen Gesichtern. Knapp eine Stunde stehen sie dort auf Posten, ziehen dann erst weiter. Eisbär und Atta rennen an den Strand und wagen ein Bad im Eismeer.
Bootsfjord: Wir sind an einem Eismeerhafen gelandet. Eine Auswahl an Fischkuttern, von kleinen Jollen bis zu großen Frachtern, liegt im Hafen. Die letzten hundert Kilometer nichts außer Rentieren und Einsamkeit an der Straße. Bootsfjord scheint das Ende der Welt zu sein, zählt aber trotzdem zweitausend Einwohner. Ein Supermarkt, zwei Friseure, die Schule und eine Tankstelle. Wir schlendern durch den Ort, als aus dem einzigen Restaurant eine Dame auf uns zukommt. „Können wir ein Bild machen?“ „Kommt kurz mit rein, ich zeige euch etwas.“ Aufgeregt kommt sie mit einem Foto wieder und erzählt von ihrer Jugend in Litauen. Auf den Tag genau vor fünfundzwanzig Jahren wurde sie bei den Pfadfinderinnen aufgenommen und erhielt ihr Halstuch. „Ihr seit heute meine Gäste!“ Wir genießen den Abend im Restaurant, auch der Wärme wegen, denn Nordnorwegen ist kalt. Wir bedanken uns auf unsere Weise mit einem Lied. Mittlerweile ist das Restaurant voller, einige Nachbarn und das Küchenpersonal steht und sitzt neugierig um unseren Tisch. Sie können es nicht fassen, dass Jugendliche in ihre Stadt ans Ende Europas reisen, wollen doch viele von hier weg. Erstmals entdecke ich die herzliche Seite der Norweger, die sich hinter der rauen Fassade versteckt. Am späteren Abend schlagen wir die Zelte an einem kleinen Wasserfall auf, der in den Fjord fließt und erklimmen dann noch einmal den Fels hinter uns. Als wir oben ankommen laufen gerade ein Frachter und ein Kreuzfahrtschiff der „Hurtigruten“ in den Hafen ein. Für einen kurzen Moment wird der Ort lebendig. Wir beobachten von hier oben das Treiben. Bald schon ist wieder Ruhe und das Schiff setzt seinen Weg nach Süden fort. Nils schaut mich an und sagt: „Wir müssen unbedingt auf Weltfahrt, Russland sehen, und Japan, und Amerika.“ „Du hast ja noch ein paar Jahre, du bist doch erst in der siebten Klasse.“ „Gehst du mit mir, wenn ich die zehnte Klasse vollendet habe?“ „Sicher!“ „Versprochen?“. Ich muss ihm die Hand geben. Mein Blick schweift über das Meer: Wie sehr wird ein Bund von solchen abenteuerlustigen Jungen getragen. In solchen Momenten zeigt sich für mich die Sinnhaftigkeit des Wandervogels, der zwar keine Bewegung mehr ist, sehr wohl aber den Einzelnen noch erreichen und erfassen kann und die Möglichkeit zum Leben und einer erfüllten Jugend bietet.
König der Landstraße: Wir sind nun auf der letzten Etappe zum Nordkap. Ein Spiel wird geboren und wer es gewinnt, der wird „König der Landstraße.“ Es gibt Punkte für die Reihenfolge des Erreichen des Ziels, für den geringsten Tagessatz der Verpflegung und wer unterwegs einen anderen Bündischen trifft, der bekommt noch Extrapunkte. Nils und ich erreichen um 18.17 Uhr als erste das Nordkap. Es liegt im dichten Nebel, Sichtweite unter fünfzig Meter und Temperatur bei vier Grad. Die Touristen blicken uns ob unserer kurzen Hosen ungläubig an. Wir lassen uns im Besucherzentrum per Urkunde unser Eintreffen bestätigen. Unser Tagessatz liegt bei 1,50€ pro Person. Das ist für Norwegen sehr gut. Als die anderen auch da sind setze ich den gesparten Beitrag aus der Kasse in Getränke um. Das nördlichste Bier Europas kostet 12€. Gut, dass wir so sparsam gelebt haben.
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